Erzähler
Wie man sich denken kann, geschah so einiges in der wirklichen Welt in den Tagen, nachdem der Handel akzeptiert worden war. Was genau? Nun, ich als Erzähler habe natürlich alles gesehen. Berichten aber lasse ich jene, die es selbst erlebten. Allerdings dürfen die daran beteiligten Protagonisten diesmal die erzählerische Position einnehmen, weshalb einiges, aber auch nicht alles, in zusammengefasster Form in nächster Zeit zu lesen sein wird.
Nun, da ihre verbleibende Zeit in Tagen und Stunden zählte, erfüllte sie Furcht. Nicht um sich selbst, sondern um jene, die sie zurücklassen würde: ihre schutzlose Tochter und ihre Adeptin, die nach ihrer Rückkehr viele unbeantwortete Fragen haben würde. Doch das Kind würde es irgendwann verstehen. Denn die Aufgabe, die von der Hüterin verlangt wurde – sich einzig auf ihre Pflicht zu konzentrieren, sich nicht von Gefühlen, Wünschen und Träumen ablenken zu lassen und nur für ihre Bestimmung zu leben – konnte sie nun erfüllen. Vielleicht war dies der notwendige Schritt, um sich ihrer wahren Aufgabe zu erinnern, ohne dass es jemand aussprechen musste.
Sie war und blieb eine Hüterin, eine Bewahrerin des Schicksals ihrer Adeptin – kein Stück weniger, aber auch nicht mehr.
Adrians ganzes Sein, so schmeichelnd, so warm und so vertraut, dass sie sich am liebsten im nächsten Moment darin verloren hätte, versuchte sie zu umgarnen und an dem, was längst beschlossen war, zu nagen und es einzureißen. Ja, endlich waren sie einander so nah, wie Tanuri es sich lange gewünscht und erhofft hatte. Aber dies durfte jetzt kein Hindernis sein, um das zu tun, was das einzig richtige für Freya war.
Nach wie vor war es nicht nur Naheniel, der Tanuri Sorge bereitete, sondern auch Etohs Fähigkeit, mit Freya zu kommunizieren. Welche Verbindung er zu ihr hatte und wie er durch das Wasser Kontakt aufnehmen konnte, blieb ihr nach wie vor ein Rätsel. Doch schon in Sturmkante, vor ihres Bruders Erscheinen, war die Idee in ihr gereift, es ihm gleichzutun.
Der Spiegel, in tausend Scherben, aber immer noch das Tor zu Freyas Aufenthaltsort, lag unberührt im Zimmer ihrer verschollenen Adeptin. Um einer weiteren fruchtlosen Diskussion zu entgehen, schlug Tanuri deshalb vor, Lorena aufzusuchen. Gemeinsam mit ihrer Magie des Eises und Wassers und den Spiegelsplitter könnten sie vielleicht eine ähnliche Verbindung herstellen, wie Etoh es bereits vor ihnen vollbracht hatte. Ein Kontakt zu Freya, so kurz er auch sein mochte, könnte Adrian vielleicht zusätzlich daran erinnern, welches Leben es wirklich zu retten galt.
Es waren lose Fäden, die sie nicht zusammenfügen konnte. Dies war für sie eine neue und beunruhigende Erfahrung, nicht über alles informiert zu sein und dadurch verstehen zu können. Die Ereignisse, die sich während ihrer Gefangenschaft zugetragen hatten, waren schwer einzuschätzen, da ein wirklicher Austausch zwischen ihr und den Gildenmitgliedern bisher nicht möglich gewesen war. Gleich an was sie dachte oder was sie versuchte, nachzuvollziehen, alles glitt aus ihren Händen. Um nicht auch noch ihren Status zu verlieren, versuchte sie ihre Unsicherheit hinter der stets so unnahbaren Fassade zu verbergen - selbst hier, vor jenen, denen sie eigentlich vertrauen konnte.
Kurz verstummte kurz, gestand dann aber offen ein, dass sie sich mit derartiger Magie nicht wirklich auskannte. Doch was hatten sie noch zu verlieren? Es musste ein Wagnis eingegangen werden, denn nur so war es möglich, vielleicht endlich einen Schritt vorwärts zu machen, anstatt immer und immer wieder hunderte zurückgeworfen zu werden.
Niemals könnte Tanuri es sich verzeihen, wenn der Schlüssel in die Hände der weißen Seite fallen würde und sich das Schicksal zu Gunsten Artherks ausrichtete. Derzeit aber kam es ihr vor, als wäre dies gar nicht mehr so abwegig und umso mehr galt es deshalb, alles daran zu setzen, dass dies nicht geschah. Niemand von ihnen konnte wissen, ob Freya nach all der Zeit noch genug Vertrauen in ihre Gilde und ihre Familie besaß, um nicht von Etoh und auch Naheniel gegen ihren wahren Willen beeinflusst zu werden.
Ein kleiner Zauber entstand zwischen ihren Fingern, von denen sogleich Wassertropfen hinab fielen, um die Fugen zu füllen und sich wie ein schützender Film über die Spiegelfläche zu legen. Dabei sollte es aber nicht bleiben, sondern mit einer Berührung ihrer Handfläche und einer beschwörenden Formel wandelte sich das fließende und in steter Bewegung befindliche Wasser zu Eis. Während Tanuri vorerst nicht mehr tat als zu beobachten, trat Adrian neben Lorena und ließ seine dunkle Macht wirken.
Schatten lösten sich aus den Ecken, verdichteten sich und hüllten den Raum in ein dämmriges Zwielicht. Ohne zu zögern griff Adrian nach dem Dolch an seinem Gürtel und zog die tiefschwarze Klinge, aus dessen Schneide sich feine Fäden reiner Finsternis emporschlängelten, über seine Handfläche. Schwarzes Blut floss in einem dünnen Rinnsal hinab, traf auf den Spiegel und verband sich, einem Spinnennetz gleich, mit dem Eis, das von Lorene beschworen wurde.
"Lorena?" Die Augen der Priesterin richteten sich auf die Eismagierin, die sichtlich unter der Macht, die von ihr ausging, zu kämpfen hatte. Hörte sie sie überhaupt, oder war sie vollkommen vereinnahmt von der Kälte, die sich ausbreitete und in kleinen Eiskristallen auf die Möbel, den Boden und die Personen legte? Nochmals wiederholte Tanuri den Namen ihrer Gildenschwester und streckte ihre Hand nach ihr aus, um sie sacht zu berühren. Doch noch bevor ihre Fingerspitzen den Arm Lorenas berühren konnte zersprang der zuvor durch Eis und Blut geflickte Spiegel in tausend Scherben.
Wie gläserne Dolche wirbelten sie durch die Luft, gefolgt von einem kalten Windstoß, der durch den Raum fegte und das düstere Zwielicht der Schattenmagie, die von Adrian ausging, auslöschte. Für einen Atemzug blieben die glitzernden Spiegelfragmente in der Luft hängen, bevor sie mit einem lauten Klirren zu Boden fielen, um dort ein chaotisches Mosaik aus Reflexionen zu bilden, die nichts als Leere zeigten.
"Nein…" Ihre Lippen formten das Wort, doch kaum gelang es ihrer Stimme, es auszusprechen. Ihre beste, nein, wahrscheinlich ihre einzige Chance, mit Freya Kontakt aufzunehmen, war - im wahrsten Sinne des Wortes - zerbrochen.