Es nutzte nichts, sich hier und jetzt in einem Wortgefecht zu ergehen. Tanuri war sich sicher, dass Stellan noch längst nicht damit fertig war, seine Meinung kundzutun, dafür würde sie ihm aber an einem anderen Tag noch genug Zeit einräumen. Jetzt aber mussten sie sich auf das Wesentliche fokussieren - und das war und blieb Freya.
Natürlich gefiel es ihr nicht, wie ihr Vater mit ihr sprach, schon gleich gar nicht vor Adrian, bei dem sie ohnehin um jeden Funken Respekt kämpfen musste und zumeist, ihrem Empfinden nach, gnadenlos scheiterte. Genauso wenig war sie damit einverstanden, was Stellan über sie und ihr Wirken als Priesterin dachte. Fraglich war es aber, welches Bild er sich selbst während seiner jahrelangen Abwesenheit gemacht hatte? Schließlich war er auch dann nicht geblieben, nachdem er ihr das Erbe der Familie übergab, sondern zog es vor, seinen Tod vorzutäuschen.
Es konnte durchaus sein, dass er mit seiner unmissverständlichen Kritik richtig lag und er von vielerlei Seiten dafür Bestätigung und Applaus erhielt. Er war bekanntermaßen nicht der Erste, der nur zu gerne seine Skepsis über sie als Priesterin aussprach. Wenngleich sie ihm anrechnen musste, dass er zumindest den Schneid besaß, es vor ihr selbst zu tun und nicht gackernd und ereifernd seine unverhohlenen Zweifel und Wünsche, einer Anpassung und Neubesetzung ihres Amts an irgendwelche fremden Ohren oder Stadtmauern richtete.
Alternativen brachten sie aber alle nicht zu Stande, weder ihr Vater noch andere. Eigentlich recht traurig. Es wäre eine willkommene Abwechslung gewesen, wenn man ihr all jene präsentiere, die sich dazu berufen fühlten, hinter den Altar im Felsendom zu treten und mit diesem Schritt nicht nur gewisse Vorteile, sondern auch Pflichten zu übernehmen.
Angeblich gab es auch die Gerüchte, es würden sich Reformen nach einer Entradikalisierung der Kirche gewünscht und ein Frieden herbeigesehnt. Wie lachhaft alleine diese Vorstellung war. Schon für diese Gedanken müsste der Galgen als Antwort folgen. Hervorgetreten war bisher aber noch niemand und so musste wohl auch Stellan damit leben, dass sie es war, die die schwarze Kirche anführte.
Momentan empfand sie es aber als unnötig, ihn weiter darüber aufzuklären, dass es für ihn keine andere Option gab als sie und er das vorerst akzeptieren und annehmen musste.
Tanuri löste ihre verkrampft ineinander geschlossenen Hände und suchte ein letztes Mal die Nähe ihres Vaters, während ihre Ausstrahlung aber kalt und zurückweisend blieb. „Ich weiß, was und wer ich bin.“
Die Selbstsicherheit in ihrer Stimme war nicht gelogen oder von eigenen Zweifel getragen. Das Gegenteil sollte der Fall sein und jenen Stolz offenkundig zeigen, den sie einst stetig an sich trug. „Genauso wie Ihr es auch über Euch wisst.“
Über ihr Gesicht zeichnete sich ein berechnendes Lächeln, welches ihre Antwort umso deutlicher unterstrich. „Noch dazu weiß ich, wohin ich gehöre.“ Obwohl ihr Wort Stellan galt, lag ihr Blick nicht auf ihm, sondern glitt in eine andere Richtung des Hörsaals. Für einen Moment fiel ein Schweigen über die Gesellschaft und den Saal, die gewiss spürbar gewesen wäre, wenn sie ihre Hände nach ihr ausstrecken würden.
Dann aber richtete sie sich noch weiter auf, wendete ihr Augenmerk ihrem Vater zu und eine ihrer zarten Brauen zog sich leicht nach oben. Genauso wie er es kurz zuvor getan hatte, bediente auch sie sich nun einem leisen Tonfall, der aber nicht verurteilend und schroff war, sondern einzig von pragmatischer Reserviertheit zeugte. „Könnt Ihr das auch von Euch behaupten?“
Auf eine Antwort legte sie keinen Wert, denn egal, welche er ihr gab, es interessierte Tanuri nicht. Anders verhielt es sich aber mit dem Vorschlag Adrians, einen anderen Ort aufzusuchen, um die Unterhaltung dort weiterzuführen. In gewissem Maße war dies seltsam und nichts, womit sie gerechnet hatte, denn es wäre nicht das erste Mal, dass sie den Hörsaal für wichtige und auch vertrauliche Gespräche nutzten. Häufiger kam die Gilde hier für Beratungen zusammen oder auch nur, um über das Alltagsgeschehen zu sprechen.
War er misstrauisch aufgrund der Tatsache, dass Tanuris Bruder sich in jeder Ecke verstecken konnte und sie ihm somit vielleicht in die Hände spielten, indem er womöglich alles hören und sehen konnte, was sie zur Rettung Freyas in Betracht zogen? Oder war er übervorsichtig, zeigte manische Züge und sah Gespenster?
Seiner wahren Intention konnte sie vorerst nicht nachgehen, da dies nur noch mehr unnötige Zeit in Anspruch nehmen würde. Und wenn sie alle sonst Uneinigkeit zeigten, ging sie doch davon aus, dass sie zumindest bei diesem Punkt einer Meinung waren: Die Zeit für Freya wurde mit jeder Minute, die sie ohne eine Tat verbrachten, knapper.
Auch wenn es nicht ganz die Form von Vertrauen war, an die Adrian wahrscheinlich zu Anfang ihrer eigenen Diskussion, als sie noch alleine waren, gedacht hatte, stimmte sie ihm zu und folgte seiner Idee vorerst kommentarlos.
Wohin aber gehen? Das war vielmehr die Frage, die es zu beantworten galt. Der Felsendom wäre ihr erster Gedanke gewesen. Dort besaß sie ein Arbeitszimmer, welches ihnen genug Raum und Privatsphäre bot. Aber es war mitten am Tag, Betende und Besucher suchten dort womöglich Einkehr und Frieden. Und wenn man die unumstößliche Wahrheit nicht außen vor ließ, dass sie derzeit von mehr Feinden als von Freunden umgeben waren, war es nicht besonders klug, durch den Dom zu gehen.
Mithilfe eines Portals wäre eine schnelle Reise nach Lichthafen möglich. Das hätte aber bedeutet, dass sie ihre wertvollen Rösser vor dem Hörsaal zurücklassen mussten - was gewiss eher früher als später für ein ungewolltes Aufsehen sorgte. Noch dazu wollte sie ihren Vater nicht in den Hallen der Legion willkommen heißen.
Es war schon genug, dass es ihrem Bruder gelungen war, sich uneingeladen Zugang zu verschaffen, auf ein weiteres Familienmitglied in dem Haus ihrer Gilde konnte sie gut verzichten. Außerdem waren sie auch dort nicht mehr vollständig geschützt. Die magischen Barrieren mochten zwar wieder errichtet worden sein, der Verdacht bezüglich eines Spions bestand aber nach wie vor, ganz zu schweigen von der Anwesenheit des äußerst fragwürdigen Anhängers der weißen Priesterschaft, von dem sie immer noch nicht zu sagen vermochte, was er nun mehr war: Tot oder lebendig.
Ihre Möglichkeiten für einen Ortswechsel waren somit nur auf den ersten Blick zahlreich. Mit einem tiefen Atemzug sah sie zunächst zu ihrem Vater, dann zu Adrian, bevor sie mit einer gewissen Resignation in ihrem Ausdruck leicht ihren Kopf schüttelte. „Mein Haus liegt nicht unweit von hier. Ich denke, es sollte vorerst genug Rückzug für uns bieten.“
Bereits vor Jahren hatte sie am Rande der Stadt ein kleines, unscheinbares Heim zu ihrem Eigentum gemacht. Es war nichts Besonderes und besaß nur zwei Räume im Erdgeschoss und eines direkt unter dem Dach. Für sie aber war es genug, war sie doch weder auf Luxus noch auf großen Komfort aus. Eigentlich war es niemals ihre Absicht gewesen, jemals davon zu erzählen oder jemanden aus ihrem Kreis dorthin einzuladen. Allerdings erforderten gewisse Begebenheiten hier und da besondere Maßnahmen und Anpassungen. Und das war nun eben eine Lage, die von ihnen allen etwas forderte.
Ihr Haus lag nicht weit von dem Hörsaal entfernt und es konnte schnell und ohne großes Aufsehen erreicht werden. Noch dazu war sie sich über eine Sache sicher ziemlich sicher: Naheniel kannte diesen Ort nicht.
Ohne noch weitere kostbare Minuten zu vergeuden, griff sie nach ihrem Umhang, zog ihn fest um ihren Körper und deutete mit einem Kopfnicken auf den Tisch, auf dessen Oberfläche immer noch das zusammengerollte Pergament Adrians lag. "Vergesst das nicht." Für einige Augenblicke wartete sie auf eine Reaktion, ob man ihr folgen würde oder nicht oder gar einen anderen Vorschlag aus dem nicht vorhandenen Hut zaubern würde. Leicht legte sie abwartend ihren Kopf in die Schräge und ließ ihre Augen auf dem Dunkelmagier ruhen.
„Verwunderung darüber, dass nicht nur die Legion und der Felsendom mein zu Hause sind, ist übrigens unangebracht. Auch ich verbringe Zeit außerhalb meiner Aufgaben und ohne die stets wachsamen und kritischen Gemüter der Gläubigen oder meiner eigenen Gilde. Da es nur sehr selten dazu kommt, bevorzuge ich es aber umso mehr, wenn nicht ein jeder davon weiß."
Tanuri drehte sich bereits in Richtung Ausgang des Hörsaals, blickte dann aber nochmal über ihre Schulter und sah Adrian erneut direkt an. "Und ich wäre dankbar, wenn es dabei bleibt.“
Wie sehr sie es doch hasste, vertrauen zu müssen.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sie ihr Haus erreichten. Es war eines unter vielen, dass sich am Rande eines gepflasterten Weges befand. Es war unscheinbar und unauffällig und niemand hätte vermutet, dass es ihr gehörte. Die Außenmauern und das Dach waren von Efeuranken überwuchert und der Garten, durch den sie traten, nachdem sie ein schmiedeeisernes Tor geöffnet hatten, war klein und mit hohen Gewächsen bedeckt.
Im Frühjahr blühten eine Menge Kräuter und Blumen und zogen die Tiere an, während im Winter alles etwas heruntergekommen wirken mochte, da Tanuri für Arbeiten dieser Art weder Zeit hatte noch ein Gespür dafür besaß. Schon gleich gar nicht wollte sie aber, dass man sie in dem Garten antraf. Ihr Rückzugsort wäre dann nicht länger einer gewesen, weshalb sie es tunlichst vermied, auch nur irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen. Oft konnte sie ohnehin nicht hier sein, blieb doch jedes Verschwinden innerhalb der Legion zumeist nicht unbemerkt.
Mit einem lauten Knirschen öffnete sich die Türe in das Haus hinein und eröffnete den Blick auf einen winzig anmutenden Raum. In diesem stand ein Holzofen, der für Wärme sorgte, sobald man ihn entzündete. Gleichzeitig diente dieser aber auch als Kochstelle oder zur Erwärmung von Wein oder Wasser mit Kräutern.
Dicht an der einen Wand führte eine sehr schmale Treppe hinauf in ein anderes Zimmer, das direkt unter dem Dach lag. Es diente als Schlafraum, besaß aber kein Bett, sondern zahlreiche große Felle, säuberlich gewebte Decken und große Polster, die für einen gewissen Komfort zum Schlafen und Ruhen sorgten. Über einen eigenen Kamin verfügte das obere Stockwerk nicht, weshalb sie darauf angewiesen war, dass der Holzofen genug Wärme erzeugte oder aber die dicken Decken genug Schutz vor nächtlicher Kälte boten.
Von jenem Raum, den man wohl aufgrund seines Herdes als Küche bezeichnen konnte, zweigte sonst nur noch ein weiteres Zimmer ab, das seinen Eingang gegenüber der nach oben führenden Treppe hatte. Mehr Räume gab es nicht, für die Zwecke Tanuris war es aber genug.
Ohne ein einladendes Wort oder eine Geste, betrat sie den anderen Raum, hob ihren Arm und mit einer tänzelnden Bewegung ihrer Finger und einem lautlosen magischen Spruch, entzündeten sich dicke, sowie auch dünne Kerzen, die mal mehr, mal weniger herab gebrannt waren. Um etwas mehr Sicht und Behaglichkeit zu erzeugen, wiederholte sie den Tanz ihrer Finger und von ihrer Handfläche fielen sogleich dicke Lichtperlen. Diese erhoben sich und wanden sich an der Decke entlang, als wären sie auf eine Ketten gezogen.
Die dicke steinerne Mauer selbst, die das Haus zu einem Haus machte, war verstellt mit Regalen voller Bücher und Pergamente, sowie auch mit einer hüfthohen Kommode, auf der sich mit von Staub besetzte Flaschen und Trinkgefäße befanden.
Eine Bank, auf der gerade so zwei Personen Platz finden mochten, ein Stuhl und ein Tisch, standen gemeinsam im letzten freien Winkel des kleinen Raums. Tanuri ging direkt darauf zu, während der eichene Dielenboden unter ihren Füßen angenehm knarrte.
Erst jetzt sah sie sich hzum ersten Mal nach ihren "Gästen" um und deutete ihnen mit einem knappen Nicken, sich an den Tisch zu setzen. Mehrere dicke Kerzen waren auf diesem aufgestellt und das Wachs hatte sich teilweise ausgebreitet. Neben diesen lag ein Stapel von Pergamenten, auf welchen sie mit feinen und verschlungenen Buchstaben die bedeutenden Worte der Prophezeiung niedergeschrieben hatte.

in einem Königreich, in das der einfache Mensch mit seinen Gedanken nicht dringen kann,
bevor Meer und Himmel und auch die feste Erde entstand,
da war das Wort der Götter schon immer gegenwärtig.
Das, was nun offen vor unseren Augen liegt, war damals noch ungeschaffen.
Und vor dem Beginn der göttlichen Schöpfung
da waren nur sie,
jene, die keinen Anfang kennen und die die Vergänglichkeit nicht berührt.
Für einen Moment stahl das Pergament ihre Aufmerksamkeit, obwohl seit ihrer Kindheit ein jedes Wort auf diesem fest in ihren Geist eingebrannt war. Es war nur ein Ausschnitt der Prophezeiung, ein kleiner Teil davon, der aber den Anfang einer Bestimmung bildete.
Genauso wie das Zusammentreffen hier nur ein Teil eines Gesamten war und weitere erste Schritte schuf, um Freya zurückzuholen.
"Also?" Ihr Blick fiel zurück zu Adrian und Stellan und fragend sah sie die beiden an. "Wie sollen wir beginnen?"