
Milde lächelte Hafrun das Mädchen an und trat bedächtig langsam etwas näher an sie heran. "Oh, es kommt mir so vor, als wärst Du nicht nur einmal falsch abgebogen."
Mit einem leichten Nicken deutete sie auf die löchrige Decke, mit der das Kind versuchte, sich selbst Wärme zu geben und sich zugleich dahinter zu verstecken. "Bist Du ganz alleine unterwegs in den Wäldern? Man weiß doch, wie gefährlich es zwischen den Bäumen ist."
Der Tonfall Hafruns klang besorgt, gar schon mütterlich. Mit einem Seufzen, stellte sie ihren Korb neben sich, legte ihre knochig dürre Hand in ihren Rücken und streckte sich mit sichtlicher Erleichterung in ihrem Gesicht, die Last für einige Minuten losgeworden zu sein. Unterdessen sie noch damit beschäftigt war, ihren Rücken gerade zu richten, musterte sie das Kind von oben bis unten mit unverhohlenem Interesse.
Sie war ihr völlig unbekannt und so bemüht sie auch in ihren Erinnerungen kramte, fand sie darin kein Bild von den näher gelegenen Anwohnern, das dem Kind in irgendeiner Weise glich. "Kann es sein, dass Du gar nicht von hier bist? Mir wärst Du zumindest zwischen all den Kindern aus den Dörfern nicht aufgefallen."
Ihre Frage nach Freyas Herkunft stellte sie ganz beiläufig, während sie ihr alten Knochen einrenkte. "Wenn Du in die nächst größere Stadt willst, wirst Du noch einige Tagesmärsche auf Dich nehmen müssen."
Hafrun war es durchaus bewusst, dass sie gegenüber dem fremden Mädchen vorsichtig sein musste, allerdings sollte das kein Grund sein, ihre Neugier über Freya zu verbergen. Wenn das Kind nicht dumm war, musste es ihm selbst klar sein, dass sie am Rande des Waldes, noch dazu völlig verirrt, mehr als deplatziert auf die alte Frau wirkte.
Ein oder zwei Schritte machte sie auf das Mädchen zu und kneifte ihre Augen zusammen, als würde sie dadurch ihren Blick schärfen können. "Bist Du vielleicht eine Ausreißerin? Waren Deine Eltern nicht gut zu Dir?" Ihre Stirn legte sich in Sorgenfalten, jetzt, wo sie Freya aus einer gewissen Nähe betrachten konnte, waren die Spuren der Schläge nicht zu übersehen.
Auf die Idee, dass das Kind irgendwie in Verbindung zu der auf dem Berg gelegenen Kirche stehen konnte, kam Hafrun nicht. Von dort kamen nur sehr selten die Schüler des Bischofs ins Dorf, um Vorräte einzukaufen. Und diese waren alle männlich. Ein Gedanke in jene Richtung wäre also völlig abwegig. Den Glücksfall aber, den das Mädchen womöglich für sie darstellte, erkannte die alte Frau hingegen sehr wohl.
Wenn sie nicht aus der Umgebung war, dann würde so schnell niemand hier nach ihr suchen. Das Land war groß und die Dörfer lagen teilweise weit auseinander. Und in ihrem einfachen Gewand machte Freya nicht den Anschein, als würde sie einem hohen Haus entstammen. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, würde es Hafrun nicht von ihrem Vorhaben abhalten. Es würde die Angelegenheit etwas heikler gestalten.
Mit einer wegwerfenden Geste ihres Arms versuchte Hafrun Freya eilig zu vermitteln, dass sie nach keiner sofortigen Antwort verlangte. Zusätzlich dazu schenkte sie ihr ein freundliches und aufmunterndes Lächeln. "Ach, das ist ja erstmal egal. Du siehst mir ziemlich hungrig und durstig aus. Außerdem seh ich Dir an, dass Du vor Kurzem noch gefiebert hast." Die glasigen, großen, blauen Augen, die ihr entgegen blickten, sagten nach wie vor einiges über den derzeitigen Gesundheitszustand des Kindes aus.
"Ungefähr eine Stunde von hier ist mein Dorf. Ich kann Dich dorthin begleiten und von dort aus kannst Du versuchen, Deine Reise fortzusetzen. Alle paar Tage kommen Händler vorbei, womöglich nimmt Dich einer von ihnen mit in die Stadt die Du suchst?"
Hafrun griff bereits wieder nach ihrem Korb und hievte diesen mit sichtlicher Anstrengung nach oben. "Ich wohne in einem kleinen Häuschen am Rand des Dorfs. Solang Du mich nicht störst, kannst Du Dich dort für eine Weile ausruhen. Komfort wirst Du bei mir zwar vergeblich suchen, aber einen Schlafplatz und eine ordentliche Decke wird sich schon irgendwo finden."
Der Gang der alten Frau war schleppend, als sie sich langsam in Bewegung setzte. "Ein Zuber mit heißem Wasser wird Dir bestimmt auch nicht schaden."
Vernachlässigt wirkte das Mädchen nicht auf sie. Dazu war das Gesamtbild, was sich ihr präsentierte, zu gepflegt. Oft genug waren ihr Kinder untergekommen, die aus Familien stammten, bei denen die Geburten nicht mehr gezählt wurden, man sich um die Namen nicht mehr scherte und auch gerne dafür sorgte, dass man das ein oder andere Kind irgendwie loswurde. Ob man es nun im Wald aussetzte und der Natur überließ oder ihm giftige Pflanzen in den Morgenbrei mischte, damit es schnell verstarb.
In den Dörfern gab es eben viele arme Familien oder auch Menschen, die sich nichts aus den Kindern machten, die sie zuvor so fröhlich jauchzend im Stroh zeugten. Nicht selten waren sie ihr schon begegnet, die traurig anzusehenden Geschöpfe, die sich nachts in die Gärten der Häuser stahlen, um sich von dort vielleicht den ein oder anderen Bissen, der über ihr Überleben bestimmen konnte, zu erhaschen.
Verstoßene, verlorene und vergessene Kinder, die niemanden hatten, außer sich selbst. Für das Geschäft, das Hafrun betrieb, waren sie nicht ertragreich. Der Aufwand und die Pflege, die sie benötigten, waren wesentlich höher, als das, was sie schlussendlich einbrachten.
Denn es waren Seelen, die zumeist bereits gebrochen waren. Und keine Nahrung, kein noch so hübsches Kleid oder gebürstetes Haar, konnte über die Leere in ihren Gesichtern hinwegtäuschen.
Freya hingegen wirkte zwar etwas verirrt, aber nicht verlassen und vergessen. Oder sie wusste es noch gut zu verstecken. Nun, das würde sich schon noch zeigen. Vorerst witterte Hafrun ein gutes Geschäft und dafür musste sie ein gewisses Risiko eingehen. Sollte das Mädchen sich als Fehlgriff erweisen, konnte die alte Frau sie immer noch im Teich ertränken oder sie ins Moor bringen.
Hafrun war bereits weitere Schritte gegangen, als sie nochmals innehielt und dem Mädchen mit einem breiten Lächeln, welches ihre tadellosen Zähne zeigte, zuzwinkerte. "Na los, komm mit. Ich werd Dich schon nicht fressen!"