Wie lange hatte er Freya schlafen lassen, dort unten in dem kleinen, nasskalten Verlies? Waren es nur Stunden oder vielleicht bereits Tage gewesen?
Schlafsand war nicht berechenbar und in Kombination mit ihrem Gesundheitszustand, war es für das Mädchen selbst wohl kaum noch zu durchschauen, wie lange sie in der schummrigen Dunkelheit verbracht hatte.
Der Bischof aber hatte Zeit gebraucht. Zeit, um über das nachzudenken, was er auf des Mädchens Arm gesehen hatte.
Die Erinnerungen, die das Symbol in ihm hervorriefen waren so frisch, als wäre alles gerade erst gestern geschehen. Die überheblichen Worte des Jungen, als er ihm davon erzählte, die Stimme seiner dunklen Majestät gehört zu haben. Naheniels erträumte und wahnhafte Reise in das höllische Schattenreich seiner Lordschaft.
Eine Bestimmung, die er sich zusammen phantasierte, da sie ganz unmöglich einen unbedeutenden Jungen, der nicht anders war als alle anderen in der Schule, betreffen konnte. Nein, viele hatten sich über Jahrhunderte hinweg als würdig erwiesen, an der Seite des einzig Wahren kämpfen zu dürfen, sobald er sich aus dem Reich des Chaos erhob. Es war nur lachhaft, dass dieser kleine Hänftling von sich dachte, wertvoller zu sein als alle anderen und die Stimme des Meisters zu vernehmen.
Womit der Bischof, der damals noch ein Priester war, aber nicht rechnen konnte, war die Macht der Dunkelheit und des Feuers, von der Naheniel bereits zehrte. Es schien dem Jungen zu jener Zeit keinerlei Mühen zu bereiten oder gar Skrupel hervorzurufen, als er den Priester erwürgte und daraufhn all die Schüler in dem klösterlichen Anwesen verbrennen ließ.
Wenig Aufmerksamkeit hatte er einst dem Mal auf Naheniels Nacken gezeigt. Eine Zeichnung von Geburt an, als eine Laune der Natur, hatte der Bischof es selbst abgetan, als der Junge ihn eines Tages danach fragte. Warum dem Heranwachsenden mehr Beachtung als notwendig schenken? Er war nicht mehr und nicht weniger als alle anderen Schüler.
Es sollte sich aber herausstellen, dass jene Einschätzung des Bischofs größter Fehler war.
Aber jetzt, jetzt war die Zeig gekommen. Zum Griefen war sie nah, die Chance auf Freiheit, auf den Tod oder auf ein neues Leben außerhalb dieser Welt. Und es war die Chance, Naheniel vielleicht erheblichen Schaden zuzufügen, wenn nicht sogar ihn zu vernichten.
Diese Kreation, in die er sie verbannt hatte, war bereits ins Schwanken geraten. Nicht nur dem roten Bischof war die Instabilität aufgefallen, nein, viele der Wesen, ob geschaffen oder von dem Schöpfer eingesperrt und ihres Schicksals und ihrer Herkunft bewusst, wagten kaum noch zum Himmel zu sehen. War er blutrot und von Feuer getränkt, so wussten sie mittlerweile, dass dies nichts Gutes verhieß.
Woher das Ungleichgewicht nach all den Jahren aber so plötzlich gekommen war? Es waren nur Vermutungen, die sich keiner laut zu äußern traute. Schließlich wussten zumindest jene, die sich über das, was sie waren und woher sie kamen und wem sie unterworfen waren, nicht, ob er es hören konnte.
Auch hier in den Tiefen des Gebirges, unterhalb der in Stein gehauenen Kirche, konnte der rote Bischof sich nicht sicher sein. Doch dieses Risiko war es ihm wert. Es waren so viele Fragen, die geklärt werden mussten. War das Mädchen aus der wahren Welt? Und wenn ja, wieso war sie hier? War sie die Tochter des Erschaffers oder gar so etwas wie der Zwilling, der das Ende bringen sollte? Oder war sie gar Naheniel selbst, nur in einer anderen Form? Nichts war unmöglich. Nicht hier in dieser widernatürlichen Kreation einer Welt, die nicht existieren durfte.
Als die Tür zu dem Verlies quietschend aufgestoßen wurde, trat der Bischof mit erhobenem Haupt und mit auf dem Rücken verschränkten Händen in den dunklen, niedrigen Raum hinein. Es roch nach Krankheit, nach Schweiß, nach Angst und Verzweiflung. Normalerweise würde er niemals einer Kirchendienerin ihres Rangs eine derartige Unterkunft zumuten.
Da er aber nicht wusste, ob sie gefährlich war, wie viel Macht sie womöglich in sich trug und ob sie der Schlüssel zum Ende dieser sich ewig wiederholenden Qual innerhalb dieser Welt war, würde er es tunlichst unterlassen, sie aufgrund ihrer Aufmachung und derzeitigen Verfassung zu unterschätzen. Niemals wäre er so dumm es zu riskieren, sie in eine komfortablere Unterkunft zu bringen, aus der es ihr am Ende ein Leichtes wäre, zu entschlüpfen.
Außerdem, wer wusste es schon, vielleicht war sie sogar geschickt worden? Eine Spionin, geschaffen aus Naheniels Hand und Seele, die dafür sorgen sollte, dass der Widerstand, der sich nach und nach zusammenfand, auseinandergerissen und zertrümmert wurde.
"Wie ich sehe, hast Du ausgeschlafen. Dann können wir uns ja jetzt unterhalten."
Seine Schritte über den kalten, steinernen Boden waren lautlos, als er sich dem frierenden und sichtlich erkrankten Kind näherte. Mitleid empfand er aber nicht mit ihr, sondern betrachtete sie mit harten Blicken. "Meine Zeit ist knapp, weshalb ich mich nicht mit Höflichkeiten aufhalten möchte. Das kannst Du doch bestimmt verstehen, oder?" Ohne den Zug einer Freundlichkeit zu zeigen, beugte er sich zu ihr herab und riss die löchrige alte Decke von ihrem zarten, kleinen Körper.
Es gab für sie keine Möglichkeit zur Flucht, denn der bullige Kerkermeister stand genau in der Eingangstüre und versperrte den einzigen Weg, um aus diesem Loch zu entkommen. Der Bischof hoffte, dass das Mädchen, trotz ihres Fiebers, noch klar genug denken konnte, um dies selbst zu erkennen und sie nicht erst darin belehrt werden musste, dass sie nicht nur zahlenmäßig, sondern auch in Kraft und der ihr gegebenen Mittel stark unterlegen war.
Harsch griff er nach dem dürren Arm des Kindes und zog den durchgeschwitzten Ärmel des Talars nach oben. Voll des Hasses flackerte das Braun in seinen Augen auf, als er das Symbol auf dem Handgelenk des Kindes betrachtete. Unnachgiebig und scharf fuhr seine Stimme über sie hinweg. "Was weißt Du darüber?"