Doch der Geschichtenerzähler wäre kein Geschichtenerzähler, wenn er hier und für heute schon zu einem Ende gekommen wäre. Zu vieles lag auf seinen Lippen, zu vieles hatte er über die Jahre gesehen und hatte sich in seinem Kopf geformt. Er hatte Häuser fallen sehen, Familien sich begründen, Kriege, Zwist und Niedertracht. Er hatte gesehen, wie die Liebenden sich fanden und sich gegenseitig das Leben nahmen. Er hatte Geschichten über jene Wesen gehört, die nur der Nacht angehörten, genauso, wie er jeden Schritt jener verfolgt hatte, die sich den Göttern angeschlossen hatten, um ihnen zu dienen. Nichts davon musste er bisher niederschreiben, alles war allein in seinem Kopf. Doch nun, vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, seine Feder zu erheben und all dem Pergament, welches er um sich herum gesammelt hatte, Farbe zu verleihen. Vielleicht brach heute, genau jetzt und hier, ein Wandel der Zeit an, vielleicht auch nicht. Er war nur der Erzähler, er glaubte weder an das Eine, noch an das Andere. Seine Funktion war einzig und allein die Geschichten zu verbreiten, die sich vor seinen neugierigen Augen zutrugen. Hier zur Erheiterung, da um seine Zuhörer in Staunen zu versetzen. Er konnte in Angst und Schrecken versetzen und Herzen zum schmelzen bringen. All dies war seine Aufgabe. Aber niemals würde er urteilen oder bewerten. So war das Schicksal jener dort im Felsendom nicht das erste, von dem er berichtete und würde auch nicht das letzte sein. Denn sie würden irgendwann gehen, er würde auf ewig bleiben. Doch während ihrer kurzen Verweildauer hier auf diesen Inseln, hatten sie die Möglichkeit etwas zu schaffen, die Geschichte zu wenden und vielleicht sogar in ein Licht zu rücken, mit dem niemand gerechnet hatte – oder eben nicht. Vielleicht würden sie auch wieder aus dem Felsendom verschwinden und leise und unbemerkt vor aller Augen ihr Leben weiterführen und anderen dafür Platz machen, seiner Erzählung die gewisse Würze zu verleihen- vielleicht sogar jener, die sich dort noch unbemerkt um die Mauern herumschlich?
Doch, wer wäre er, wenn er seiner eigenen Geschichte vorgreifen würde?
Dunkel war die Welt um sie herum geworden. Längst hatte die Sonne den Horizont geküsst und war hinter den Bergen, in welche der Felsendom versteckt war, verschwunden. Ohne den Schein der Sonne, welcher tagsüber die dicken Steine erwärmte, fielen die Temperaturen nun merklich. Nicht unbedingt unangenehm, aber kühl genug, sodass man meinen konnte, die Gänsehaut die die Haut Tanuri’s überzog, als ihre Hände auf jenen Barathrums lagen, möge daher ihren Ursprung haben. Doch war es wirklich die nächtliche Kälte? „Was ich will, Barathrum?“ Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, hörte sie ein leises poltern vor dem Dom. War es nur ein Steinschlag, der sich aus den Felsen gelöst hatte und nun zu Boden fiel? Oder schlich gar jemand um die Mauern herum und hatte mit seinen Füßen die kleinen Kiesel berührt, die hier und da lagen.
Erschrocken zog sie ihre Hände von den seinen und sogleich trat der altbekannte unnahbare und misstrauische Ausdruck zurück in ihre Augen. Sie wich einen Schritt von ihm zurück und straffte ihren Körper. Hatte er sie am Ende doch in eine Falle geführt? Gewartet, bis der Schutz der Nacht hereingetreten war um einen listigen Überfall auf sie zu planen? Sie endlich mundtot zu machen, damit sie ihn nicht mehr vor aller Welt in Zweifel ziehen konnte?
Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, musterte ihn und seine Hände, in welchen gerade noch die ihrigen gelegen hatten. Sie konnte nicht sagen, was genau sie gefühlt hatte, als seine Haut die ihrige berührt hatte. Waren es doch nur die Handflachen zweier Individuen gewesen, die aufeinander geruht hatten. Auch hatte dieser Moment nur wenige Wimpernschläge angedauert und obwohl alles in ihr danach geschrien hatte, sich sofort von ihm abzuwenden, gab es eine kleine, sehr leise, aber doch bestimmte Stimme, die ihr befahl, eben genau dies nicht zu tun.
War es Ogrimar selbst gewesen, der beschlossen hatte, ihre Schicksale ineinander zu verweben? Nicht zum ersten Mal begegneten sie sich, ihr erstes Treffen war ausgefüllt gewesen von einer hitzigen Diskussion. Und genau auf diese Art begegneten sie sich wieder. Denn auch wenn ihre Worte oft so unterschiedlich waren, ihre Gedanken und auch ihre Überzeugung war es nicht. Trotz aller Unterschiedlichkeit, die sie beide verkörperten, hatten sie eins mehr gemein, als sie in diesem Moment erkennen konnten: Ihren Glauben in Ogrimar.
Doch ob sie ihm vertrauen konnte, dessen war sie sich immer noch nicht sicher.
Sie konnte es sich nicht leisten, ihre Wachsamkeit zu verlieren. War sie in diesem Moment zu misstrauisch? Sah sie bereits Gespenster und es war wirklich nur ein kleiner Stein, vielleicht auch angeschubst von den vielen Skraugs, die sich hier und da hinter den schützenden Zaun verirrten?
Hatte sie sich, nur für einen Augenblick zu viel, von dieser Nähe, die sie stets vermieden hatte, übermannen lassen? Nur um abgelenkt zu sein von dem was eigentlich seine Absicht sein könnte?
Oder war es jemand völlig fremdes, unbeteiligtes, den es hierher verschlagen hatte?