
Das Abendessen wurde verzehrt. Wer nicht schnell genug war, bekam zu wenig. Die Gräfin mochte es nicht, zu warten. Denn das war eine unerträgliche Verschwendung von Zeit und Zeit war von unschätzbarem Wert. Sie hatte nichts zu verschenken, nicht einmal Geduld. Auch wenn es wichtig war, dass sie alle aßen und nicht dürr wie morsche Äste wurden. Die Dürren waren nicht begehrt. Sie wirkten kränklich und blass. Als müsste man sie zuerst aufpäppeln, nachdem man sie kaufte. Niemand wollte zuerst seine Ware ansehnlich machen und formen müssen, sondern sofort das Beste in den Händen halten.
Deshalb achtete die Gräfin auf regelmäßige und nahrhafte Mahlzeiten. Einwandfreie Manieren waren aber unerlässlich. Manieren manifestierten sich auch in Effizienz. Wer wollte es sich schon noch leisten zu warten. Warten bedeutete Stillstand und Stillstand war nicht hinnehmbar.
Es missfiel der Gräfin, Freya dabei zu beobachten, wie sie von dem Fleisch und den Kartoffeln nur wenig aß. War es etwa Undankbarkeit? Ihr scharfer Blick blieb aufmerksam auf dem Mädchen haften. Wie enttäuschend, wenn Freya das Geschenk, das die Gräfin ihr bot, nicht schätzte. Schließlich stand ihr schon bald die ganze Welt offen. Wenn sie erst den Wandel von einem bisher noch glanzlosen und unansehnlichen Stein hin zu einer geschliffenen Kostbarkeit vollzogen hatte.
Unerwartet erhob sich die Gräfin. Sofort hielten alle Anwesenden inne, legten das Besteck beiseite und ihre Hände auf den Tisch. Passte man genau auf, merkte man, dass ihre Atemzüge im gleichen Takt gingen. Für Außenstehende musste das gespenstisch wirken, für die, die lange da waren, gehörte es zu ihrem Leben.
Alles gleich, Tag um Tag, Nacht für Nacht. Stunde um Stunde. Jahr für Jahr. Gehorsam war nicht nur Strafe, es war eine Einstellung. Und besaßen des Gräfins Perlen die richtige Einstellung, konnte ihr Wert unermesslich sein.
Sie ergriff ihren Stock, entriss ihn dem Mädchen aber nicht. Mit erhabener Haltung, durchgestrecktem Rücken und gerecktem Kopf trat sie an den Kindern vorbei. Immer wieder prüften ihre Augen unter dem gewobenen Schleier die Handrücken der Sitzenden. Sie bemerkte, dass sich nicht jedes Besteck in korrekter Lage befand. Es blieb aber ungerügt, da ihr hauptsächliches Interesse Freya galt. Natürlich wussten sie aber, dass sie beobachtet wurden. Das waren sie immer. Wenn nicht von ihr, waren es andere. Nie konnte man sich sicher darüber sein, wessen Augen auf einem lagen. Weshalb man gut beraten war, gar nicht erst den Versuch zu wagen, abzuweichen. Nichts entging ihr, nichts blieb vor ihr versteckt. Wäre es anders, würde schon bald Nachlässigkeit zur Tagesordnung werden. Schlamperei war schwer auszumerzen, das wusste sie zu gut. Daher ließ sie diese gar nicht erst aufkommen.
Auf der Höhe von Freya bleibt sie stehen. Ihre Aura war distanziert und undurchsichtig. Völlig anders jedoch ihre Stimmlage, die einen derben Kontrast bildete. Der Klang war schmeichelnd und besorgt. "Schmeckt dir das Essen nicht?" Ein Atemzug verstreicht, und ein nächster. Ein leichtes Zucken war auf der weiß gepuderten Wange zu erkennen. Ein Lächeln war es aber nicht. Um Freyas Teller genauer zu inspizieren, beugte sie sich leicht nach vorn. Kaum angerührt lag dort das Essen und wurde langsam kälter. "Anscheinend gibt es ein grundlegendes Missverständnis über Wertschätzung und das Befolgen einiger simpler Regeln." Sie legt eine auf den Kindern schwer lastende Pause ein und lässt die Worte vorerst in der Stille des Raums hängen. "Das offenbart eine besorgniserregende Unaufmerksamkeit für die Details, die ab jetzt für dein Leben unerlässlich sind." Ihr Kopf neigte sich zur Seite, ihr Ausdruck bleibt blieb aber unverändert. "Habe ich etwa zu viel erwartet?" Abrupt wendet sie sich ab und gibt Freya keine Zeit zu antworten. Es war auch besser so, da es in diesem Fall keine richtige Antwort geben sollte.
"Das Mahl ist beendet."
Unnötig zu erwähnen, dass dies für alle galt. Weder Gabeln noch Messer durften nochmals angehoben werden. Gleich, ob die Teller bereits zur Hälfte geleert waren oder gerade begonnen. Die Gräfin verließ den Speisesaal. Sie lächelte nicht.
Jetzt fielen die Blicke zum ersten Mal auf Freya. Bohrend, vorwurfsvoll, nach einer Schuldigen suchend. Das Tagwerk war anstrengend gewesen. Obwohl die Herrin darauf achtete, dass die Kinder gesund blieben, gab es keine Mahlzeit zwischen Mittag und Abend.
Pausen machten träge und faul und durchbrachen die strenge Routine.
Bedienstete eilten herbei, wie aus dem Nichts. Flink griffen sie nach den Tellen und dem Besteck, während einige Augen sehnsüchtig den verschwundenen Mahlzeiten folgten. Der Hunger war noch nicht gestillt. Sie waren schließlich alle Heranwachsende. Suppe allein füllte eben keine Bäuche. Ebenso wenig wie ein paar Bissen einer Hauptmahlzeit. Aber was half es schon? Über die Anweisung der Gräfin stellte sich niemand. Nicht einmal der Hunger.
Keiner erhob sich, bis die Tische abgeräumt waren. Auch die Kragenschwestern und -brüder lernten, wie ein Tisch zu decken und aufzuräumen war. Das gehörte zu einer umfassenden Ausbildung und wurde hoch geschätzt. Nicht alle würden in ihren neuen Haushalten den einfachen Dienst verrichten. Es gehörte aber zur Vollkommenheit ihrer Ausbildung dazu. Alles, was sie lernten, konnte irgendwann dienlich sein. Das wusste die Gräfin. Und alles, was tauglich war und einen guten Eindruck hinterließ, war ihr von Vorteil.

Die Teller mit der warmen Mahlzeit waren fort und sie erhoben sich. Milla stand mit wenigen Schritten bei Freya, berührte sie jedoch nicht. Weder aufmunternd, noch mahnend. "Komm." Sagte sie nur knapp. Ob sie selbst verärgert war? Das konnte Freya nicht deuten, dazu kannte sie die Kragenschwester zu wenig.
Mit schnellen, aber gemäßigten Schritten eilte Milla durch die Gänge. Freya musste sich sputen, um nicht verloren zu gehen.
Einmal ging es in eine Richtung, dann wieder in die andere. Bestimmt war es für das Mädchen schwer, sich das einzuprägen. Alleine würde sie den Speisesaal wohl nicht mehr finden in dieser unübersichtlichen Residenz. Ob Milla aber morgen wieder an ihrer Seite war, konnte Freya nicht wissen.
Es ging Treppen hinauf. Zuerst eine breite, dann eine schmalere. Ein langer Flur reihte türe an Türe, kleine Zimmer mit höchstens drei Betten. In eines davon leitete Milla ihre neue Kragenschwester und Zimmernachbarin. Wie lange sie gemeinsam in einem Zimmer blieben, war nicht abzusehen. Der Willen der Gräfin war unberechenbar. Wenn Freya schnell lernte, gehorsam zeigte und ihre Rolle akzeptierte, konnte es gut sein, dass sie in das Angebot der nächsten Auktion aufgenommen wurde. Diese stand unmittelbar bevor. Alle wussten das. Manche sahen darin eine Erlösung. Wieder andere fürchteten das Unbekannte noch mehr, als das Leben in der Residenz.
Milla schloss die Türe hinter sich, lehnte ihren Rücken gegen die Tür und atmete einmal tief aus. "Sie war nicht zufrieden." Flüsterte sie leise, als hätten die Wände große Ohren, die nur darauf warteten, etwas aufzuschnappen. "Morgen musst du es besser machen."