Leichenberge, Düsternis, die Asche von den Toten.
War auch sie magisch angezogen worden von diesen Bildern? Sie war hier alleine gewesen, und das obwohl sie an ihrer Robe das Siegel einer Gilde trug. Waren Gildenschwestern und Gildenbrüder nicht stets füreinander da? Und standen einander zur Seite? Er hatte sie hier völlig alleine angetroffen, sichtlich verwirrt noch dazu.
Vielleicht war sie ja von ihrer Gilde verstoßen wurden und trug das Wappen unerlaubt weiter.
Vielleicht hatte sie von der Vision erzählt und war belächelt und hinfortgejagt worden. Wie auch immer, er würde sie dazu nicht befragen können. Nicht in dieser kurzen Zeit. Deshalb musst er es riskieren. Ein Wagnis, dessen Ende er noch nicht herbeisehen konnte, doch was blieb ihm anderes übrig? Für ihn zählte einzig und alleine diese Verbindung zu trennen, denn, so glaubte er immer mehr, sie war nicht von Ogrimar geschmiedet worden.
Was sollte dieses kleine Kind für einen Zweck in seinem großen Plan haben?
Er setzte wieder dieses Lächeln auf, welches er bereits dem Bibliothekar geschenkt hatte, ein Lächeln, das niemals etwas Böses vermuten lassen würde.
Es kommt mir alles so vertraut vor. Lächerlich, nicht wahr? Als Kind hatte ich häufiger seltsame Träume. Träume, die sich so real anfühlten. Einmal habe ich meinen Eltern davon erzählt, weil ich dachte...“
er lachte kurz peinlich berührt auf, „weil ich wirklich so dumm war und dachte, der einzig Wahre hätte mir diese Träume geschickt um mich durch diese Welt zu leiten. Das Ende vom Lied war, dass sie mich verstießen. So jemand wie ich war für unsere ehrfürchtige Familie nicht mehr tragbar.“
Er brachte diese Lüge so glaubhaft vor, dass er schon fast versucht war, sie selbst zu glauben.
Erkannte er Mitleid in ihrem Gesicht?
Oder war es vielleicht sogar ein Teil der Selbstidentifikation?
Hatte er etwa genau den Nerv getroffen, den er treffen wollte?
„Heute schäme ich mich dafür, dass ich jemals geglaubt habe, dass ich zum Kreis derer gehören würde, durch den Ogrimar spricht.“ Er zuckte ergeben mit den Schultern und hielt einige Augenblicke mit gesenktem Kopf inne.
Die Versuchung war sehr groß jetzt in ihr Gesicht zu blicken und aus diesem zu lesen, was sie dachte.
Doch er widerstand. Leise, aber fast mit kindlicher Unschuld sprach er weiter: „Aber wisst Ihr, irgendwie haben mich diese Träume niemals losgelassen. Heute habe ich sie nicht mehr, vielleicht, weil ich sie später verleugnet habe? Aber diese Faszination und gleichzeitige Angst die sie in mir ausgelöst haben … und bis heute tun, diese ist ungebrochen. Aber es ist auch etwas anderes... etwas, von dem man gar nicht sprechen darf... Vielleicht ein klein wenig Faszination?"
Nun wagte er es, ihr direkt in die Augen zu sehen. Und was er dort sah, erfreute ihn so sehr, dass es ihm nur schwer fiel, nicht laut loszulachen.
Er hatte sie erwischt.
Sie nickte, zwar sehr zögerlich aber sie nickte. Mit einem gespielten Erstaunen betrachtete er sie weiter und flüsterte ganz leise: „Ihr versteht mich?“
Wieder ein Nicken, nicht mehr ganz so zögerlich: „Ich kenne diese Träume …“
Die Worte kamen ihr so leise über die Lippen, dass er sie kaum verstand. Doch sie waren ausgesprochen worden. Triumph breitete sich in ihm aus.
Aber er wusste, dass die Schlacht noch nicht geschlagen war.
Sie musste ihn zum Orakel begleiten. Nach diesen wenigen Worten war er sich sicher, dass sie es war, nach der er suchte. Sie war jung, unbedarft und völlig alleine hier. Niemand konnte sie lenken, ihr irgendetwas einflüstern.
Nur er.
Und so war es jetzt an ihm, ihre kindliche Unerfahrenheit, ihre Ängste und doch auch … nun wenn sie ein klein wenig so war wie er als Kind, als er zum ersten Mal die Visionen hatte … diese Neugier nach dem Unbekannten, nach der Finsternis die nach ihnen gegriffen hatte.
Vorsichtig ging er einen Schritt auf sie zu, immer noch im gebührenden Abstand zu ihr um sie nicht zu verschrecken, aber doch, um etwas Nähe zu schaffen, damit sie sich nicht fürchten musste vor ihrer eigenen Angst und vor ihren eigenen Gedanken und der verworrenen Gefühlswelt die sie erfasst hatte, seitdem sie die Visionen gehabt hatte.
„Hast Du je dahin gestrebt, wo das Unerforschte lebt? Ganz weit fort, an einen Ort, wo die Finsternis ihre Geheimnisse verdeckt?
Seine Stimme wurde immer leiser. Fast schon zögerlich sah er auf sie hinab, gar so, als würde er sich für seine Worte schämen und Angst davor haben, was sie für diese Offenbarung von ihm halten würde.